Orthodox für einen Tag
Oder: Wie ein Turban mich näher ans Judentum führte
<Könnte ich mal Ihr Telefon benutzen?> Mein Blick taucht aus den Tiefen einer Whatsapp-Konversation und wird von dem freundlichen Lächeln einer Dame in Empfang genommen. Ohne nachzudenken, höre ich auf zu tippen und überreiche ihr mein Ein und Alles. Sie lächelt dankbar, erleichtert zugleich und entfernt sich raschen Schrittes, was die Falten ihres knöchellangen Plisseerockes zum Schwingen bringt. Bereits zu diesem Zeitpunkt meine ich viel über sie zu wissen. Mittleren Alters (oder wie Karlson vom Dach gesagt hätte: In den besten Jahren), aus Italien (kaum zu überhören) und einer orthodoxen Familie stammend (das erkennt man auf den ersten Blick). Noch während ich ihren Rock-Pullover-Look beäuge und mich frage, wie warm es wohl unter ihrer Echthaar-Perücke ist, treibt sie meilenweit in die Empfangshalle des Ben-Gution-Flughafens ab. Würde man eine Frau in Nieten ebenso sorglos ziehen lassen?
Orthodoxe Damen genießen in Israel mehr und mehr Respekt. Niemand stößt Debatten an, ob es ihnen verboten sein sollte, ihr Haupt zu verschleiern, oder zwingt pubertäre Haredim (junge religiöse Mädchen) am Schwimmunterricht Teil zu nehmen. Nein, hier tragen sie ihre seidenen Turbane auf erhobenen Schwanenhals und tänzeln wie selbstverständlich zwischen ihrer verborgenen Welt und dem säkularen Faktor hin und her. Vielleicht erwecken sie Vertrauen, wenn sie mit ihren Scharen von Kindern die Straßen fluten?! Weit aus mehr steht ihnen die Unschuld, das göttliche „Reine“ ins Gesicht geschrieben, welches man nie versoffen in einer Bar antrifft. Aber weshalb eigentlich? Nur weil sie sich bunte Tücher in die Haare geflochten und den spießigen Faltenrock revolutioniert haben?!
Nach einer Ewigkeit ist Madame zurück. „Das war wirklich nett von Ihnen!“, sagt sie und lässt sich auf meiner Wartebank nieder. Finde ich auch. Aber da ist diese Vertrautheit zwischen uns beiden, diese Warmherzigkeit, die sie mir entgegenbringt. Nie zuvor hat mich eine Religiöse so verbindlich angequatscht. Wie könnte ich ihr da böse sein, dass sie ihren Kaffeeklatsch auf meine Kosten ausgetragen hat?! Wo ich herkomme, und ob meine Familie ebenfalls hier in Israel lebt - Ich sei doch jüdisch?!„Ja“, antworte ich prompt und will noch im selben Moment meinen eigenen Ohren nicht trauen. Habe ich das nötig?!? Vor meinem inneren Auge sehe ich Jesus sich bekreuzigen... wenn auch belustigt.
Die Wahrheit ist, ich will einfach mal mitspielen. Nicht zum millionsten Mal erklären müssen, was mich Gojah nach Israel zog (wenn es nicht meine Wurzeln sind) und erst recht nicht verraten, dass mein Turban einzig allein dazu dient, Lockenwickler zu verbergen (weil ich heute Abend auf die Tanzfläche will). Noch während ich die Dame in mein Telefon plaudern sah, wurde mir klar, dass ich nie den Wunsch gehegt habe, zu konvertieren. Wahrscheinlich in dem Wissen, jeden Tag nach Hause/ in ein christlich geprägtes Deutschland zurückkehren zu können, wo Kirchenglocken läuten und die Leute sich auf Weihnachten freuen. Religion sucht man sich nicht selber aus, man wird hineingeboren und häuft prägende Erlebnisse mit Familie und Freunden an. Nicht die Religion an sich, stellt man mit Gleichaltrigen/Gleichgesinnten fest, sondern das wohlig warme Gefühl, einem Rudel zugeteilt zu sein, lässt einen glauben. Demnach werde ich mich nie jüdisch fühlen.
Sich ständig zum Außenseitertum zu bekennen, macht trotzdem nicht so richtig Spaß und irgendwie muss man das hier selbst an der Supermarktkasse. Tel Aviv ist seit Jahren mein fester Standpunkt, sowie in meinem Herzen fest verankert. Die schlichte Tatsache, dass ich von Geburt aus nicht in den Genpool gehöre, niemals den Glauben wahrhaftig an meine Kinder weitergeben könnte, steckt mich (ob es mir gefällt oder nicht) in die Reste-Schublade. Nichtjuden sind im jüdischen Staat Menschen zweiter Klasse - allein was die Rechtslage betrifft. <Was hast Du anderes erwartet?!?> frage ich mich auf der einen, <dass jüdisch nicht demokratisch ausschließt> denke ich auf der anderen Seite. Heute bin ich jedoch als Orthodoxe getarnt durch die Stadt geschlendert, selten von so vielen neugierigen Blicken verfolgt. So fühlt es sich also an, Teil des Ganzen zu sein?!
„Und… schon verheiratet?“, geht das Ratespiel weiter. Ich lache aus tiefstem Herzen (nichts scheint weiter entfernt), doch ihre erhobene Braue lässt mich eilig verstummen. „Ah!“, ihr Fingernagel zeigt auf mein Haar, „das tragen nämlich nur Vermählte!“ Lügen haben kurze Beine. "Hätten Sie Interesse??", fährt sie unbeirrt fort, "ich kennen da nämlich einen ganz bezaubernden jungen Mann... Aus Milano!" Heimlich atme ich auf. Drei weitere Mal wird sie mich während unseres darauf folgenden Gesprächs über Gott und die Welt noch löchern, ob sie nicht etwas arrangieren solle, er wäre ganz bestimmt mein Typ. Ich für meinen Teil habe jedoch genug von meiner Flunkerei und lehne dankend ab. Erstaunlich, wie Mode täuschen kann. Tage später kommt mir zu Ohren, dass Juden nach drei erfolgreichen Verkupplungen in den Himmel kommen. Dem Turban sei Dank, dass ich überhaupt in Erwägung gezogen wurde.
Mit Samthandschuhen angefasst, von jedem ein bisschen mehr hofiert zu werden, hat mir (offen gestanden) behagt. Mehr als von einem Anwalt für Immigrationsrecht zu hören, dass ich Zitat <das Wasser in der Suppe bin> und die Regierung alles in ihrer Macht stehende tun werde, mir kein Visum zu geben. Oder von Mr. New Jersey mit der Begründung abserviert zu werden, dass er das seinen Eltern nicht antun könnte. Um so lustiger war die Turban-Erfahrung für mich, wie einfach man als Club-Mitglied bezeichnet wird, sobald man sich entsprechend kleidet. Sind wir am Ende wirklich das, was wir tragen?