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Buch für den Januar


Emma Celine ist im literarischen Brooklyn als neues Wunderkind verschrien. Ihr Debüt-Roman "The Girls" liest sich wie eine Zeitreise in die verruchte Hippie-Ära Kaliforniens - und in die Pubertät.

Es gibt diese Leser, die Bücher geradezu fressen. Meistens geben sie Sätze von sich wie „Den Distelfink (über 1000 Seiten) habe ich über das Wochenende gelesen“, als ob sie im Heißhunger ein Sandwich vor dem Kühlschrank gerissen hätten. Zu ihnen gehöre ich beileibe nicht. Dennoch reichte ein öder Tag am Flughafen aus (an dem man die Sockenfarbe aller möglicher Terroristen erfuhr), um von "The Girls" ganz und gar verschlungen zu werden. Die Szenerie eines spirituellen Kaliforniens mit Träumen und Visionen wird von der heute siebenundzwanzigjährigen Autorin so hautnah geschildert, dass man die Luft von 1969 schier atmen kann.


Doch eine melancholische Preisung der Flowerpower-Kultur werden einem die 372 Seiten nicht bieten. Die zwei Erzählstränge der Protagonistin Evie Boyd erzählen jedoch Bände von pubertären Sehnsüchten und dem dringenden Bedürfnis dazuzugehören. Nichts anderes veranlasst ihre jüngerer Version sich einer eigenartigen Kommune anzuschließen: Den Girls.

Einer Gruppe entlaufener Mädchen aus ähnlich zerrütteten Elternhäusern, welche wild durcheinander leben und lieben und sich am Ende selbst verlieren. Anfangs nur als Betrachter agierend, verfällt auch Evie langsam aber sicher dem gefährlichen Charme dieses Lebensstils, gezeichnet von kommunistischen, sexistischen Mustern, Sonnenwendfesten, Mädchen-Kumpanei, ACID-Abenteuern und zügelloser Sexualität. Schleichend wird deutlich, wie stark sich die Hauptperson in diesem Spinnennetz verfängt und den Abgrund bald vor eigenen Augen sieht.


Emma Celine schreibt unverblümt ehrlich. Sie hält sich nicht lange mit Zeitzeugnissen auf und steckt all ihre Kraft lieber in die Gefühlslagen ihrer Charaktere. Kunstvoll führt sie ein emotionales Chaos in die Arena und lässt den Zuschauer dessen Nachspiel ausbaden. Aufgewachsen als eines von sieben Kindern in Kalifornien scheint sie selbst ein Nachkomme der Hippie-Bewegung zu sein, anders lässt sich jene authentische Aura nicht erklären, mit der sie die Reise in die Vergangenheit sowie in Evie Boyds Hirn leitet, in denen die Synapsen mit Gewissheit noch nicht zusammen gefunden haben. Emma Celines Worte sind geladen mit berstender Spannung, philosophischer Reflexion und träumerischer Nostalgie. Ob eklig, oder sexy, schön, oder hässlich - die Sprache der jungen Amerikanerin krallt sich auf verführerische Weise im Ohr fest und ist meiner Meinung nach schwer zu widerstehen.


Die Geschichte selbst ist nicht frei erfunden. Den Knochen der Erzählung liefern die Skandale der Manson Family, welche 1969 die heile kalifornische Welt in Blut ertränkten und noch heute die Frage aufwerfen, zu was pubertäre Mädchen unter gewissem Einfluss in der Lage sind. Dieser Gedanke verfolgte auch Emma Celine; wie weit würde ich selbst gehen?! Was sind wir bereit zu opfern, um das Gefühl von „Leben“ zu erfahren?!




Während ihrer Recherche in eigenen Tagebüchern ertappt sich Emma Celine auf frischer, vierzehnjähriger Tat: „Ich war ein Monster!“ Was mich schmerzlich an die Szene erinnert, welche sich neulich neben mir im Café ereignete. Neben mir nahm eine Mutter mit ihren zwei Kindern einen festlichen Lunch ein. Das spiegelte sich jedoch nicht auf dem Gesicht der ca. 13jährigen Tochter wider. Nein, dort stand blanker Hass geschrieben (der ihre Mutter sichtbar zu Schaffen machte), gepaart mit jugendlicher Unsicherheit und einer fühlbaren Distanz zum Geschehen. Alles schien ihr peinlich zu sein, das eigene Ich nicht genug und ihre Mutter hätte sie am liebsten zum Mond geschossen. Ich konnte kaum hinsehen. Als hätte man mir einen Spiegel vorgehalten, sah ich dort mein eigenes pubertäre Ich sitzen. „Sophie schafft es von einer zur anderen Sekunde, mich zum Heulen zu bringen!“, soll meine arme Mutter damals einer Freundin verraten haben. Da haben wir das Monster, von dem wir bereits sprachen.


Auch Evie Boyds Selbstfindung scheint so unvollendet wie ein halb gelöstes Puzzle. Und als ob man damit nicht schon alle Hände voll zu tun hätte, verwandelt sich das traute Elternhaus unter ihren Füßen in einen Scherbenhaufen und die beste Freundin lässt sie für einen Typen fallen. Wann, wenn nicht dann, wäre man anfälliger für eine Kommune mit völlig neuen Werten? Sich Mädchen anzuschließen, die einen trotz ihrer ungekämmten Haare und kriminellen Machenschaften faszinieren. Einem den Gedanken einpflanzen, dass unsere kapitalistische Gesellschaft an unserer Seele nagt und der Schlüssel in Liebe und Gemeinschaft liegt?


Aus dieser zerstörerischen Illusion wacht der Leser vor dem erzählenden Ich auf. Evie Boyd will um jeden Preis gesehen werden. Aber wollen wir das nicht auch? Hat unser digitales Zeitalter diesen Wunsch nicht noch verstärkt, denkt man an die unzähligen Selbstverherrlichungen/ Darstellungen in sozialen Netzwerken, die auf was genau abzielen?! Weshalb brechen Jugendliche plötzlich aus ihrer heilen Welt nach Syrien auf, um sich der Gemeinschaft des IS anzuschließen?! Und wer hat sich in der Pubertät nicht schon mal die falschen Freunde ausgesucht, um vielleicht mit neuem Selbstbewusstsein den Schulgang hinunter zu schweben?!


Mit ihrem New York Bestseller hat Emma Celine eine erfrischend neue Perspektive geboten, welche den Teenager samt all seiner Abenteuerlust, Schwarz-Weiß-Überzeugungen und Tanz auf dem Vulkan durchleuchtet.



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