Hau-drauf-Lektüre
In den Himmel gelobt werden Geschichten heute, sobald das Blut spritzt und Leichen sich türmen. Aber wehe, es zieht sich einer aus!
So lange ich denken kann, war ich mit Büchern bestens versorgt. Meine Großmutter mag kein Händchen fürs Kochen haben, doch ihrem Lektüregeschmack vertraue ich blind. Folglich blieben mir als Heranwachsende fantasielose Durststrecken erspart, in denen ich keinen Anlass fand, das Licht heimlich wieder anzuknipsen und in den Welten von Madita, Krabat oder Jane Austen einzutauchen.
Vielleicht ist grade diese Exklusivität der Grund, weshalb ich mich von der zyklopischen Auswahl jedes Buchladens für gewöhnlich überrollt fühle und die Suche nach dem perfekten Roman ins Leere läuft. Es braucht Zeit und Geduld, den richtigen zu finden und wohlmöglich auch den richtigen Berater, dem man seine Präferenzen ans Herz legen kann. Heute verirre ich mich in die Bücherecke am Flughafen und muss anschließend mit Schauermärchen wie dem <Sympathizer> (Viet Thanh Nguyen) verreisen - nur weil auf seinem Deckel der Pulitzer-Preis prangt.
Aber das nur am Rande.
Was mir auf solchen Irrfahrten begegnete, war meistens blutig. Die Pulitzer-Preis-Jury meinte es vielleicht gut mit Autor Viet Thanh Nyuyen. Doch was dem Leser des Sympathizer Wort für Wort geboten wurde, war ein Drama in drei Akten. Eingeleitet durch eine fünfseitige Schilderung eines Sexualakts, ausgetragen von einem Jugendlichen an einem toten Tintenfisch, was sich las wie eine vietnamesische Version von American Pie - nur ein wenig gruseliger. Ich saß gerade am Flughafen in Chiang Mai als mir die Augen aus dem Kopf zu fallen drohten. Hundert Seiten später wurde Folter genüsslich und bis ins letzte Detail zelebriert und zum krönenden Schluss eine Gruppen-Vergewaltigung nahegelegt. Ende, aus. Mehr war eigentlich nicht passiert.
Nach einem Unterhaltungsprogramm, das ausschließlich auf kitschigen Heile-Welt-Träumerein basiert, lecke ich mir nicht die Finger. Doch ist es wirklich die große Kunst, einfach verbal zuzuhauen?
Jedem, der von Zeit zu Zeit mal hoffnungsvoll durchs Abendprogramm zappt, begegnen nichts als Leichen. Es scheint, dass Deutsche sich neben der Tagesschau nur noch mit blutrünstigen Krimis zu unterhalten wissen. Insofern scheint es nicht mehr außergewöhnlich, nach einem gemütlichen Fernsehabend in Gedanken mit einem Pädophilen zu Bett zu gehen, welcher wenige Minuten zuvor noch seine Handflächen auf heiße Herdplatten presste. Schlafe tief und träume süß…
"Was ich allerdings nie ganz verstanden habe,
ist, dass man sich in den USA im Kino oder Fernsehen die grausamsten Gewaltszenen ansieht, aber schon bei einer nackten Frauenbrust die Krise kriegt."
(Alexander Skarsgård, Tarzan Darsteller)
Alte Klassiker wie Frühstück bei Tiffany, Piroschka, oder Die Feuerzangenbowle wirken neben den heutigen Blockbustern wie eine Tüte rosaroter Lutscher. Wo sind die blau und grün geschwollenen Augen, eingetretenen Rippen und zerschmetterten Schädel? Doch wahrscheinlich bin ich nicht mit der Zeit gegangen. Während ich mir noch die Augen zuhalte, sobald ein Folterinstrument nur auf der Bildfläche erscheint, ist Brutalität längst salonfähig geworden. Beispiele hierfür liefern selbst unantastbare Bestseller wie der Roman Die Stadt der Blinden (José Saramago), TV-Serie Westworld, oder Kassenknüller wie Django Unchained (Quentin Tarantino). Erotik-Märchen 50 Shades of Grey schlug hingegen ein wie eine Bombe und verwandelte die gesamte Literatur-Landschaft in einen aufgescheuchten Hühnerstall. Was nur die Tatsache unterstreicht, (wenn man bedenkt dass es sich im Endeffekt auch nur um eine verruchte Cinderella-Version für Erwachsene handelt), dass wir einem unterschwelligen Tabu wie Sex immer noch so viel Kraft verleihen, dass Gewalt wieder zum Thema wird. An Mord und Totschlag allein haben wir uns doch schon längst gewöhnt.
Persönlich gesehen, empfinde ich diesen Trend als reine Faulheit. Als äußerst bequem erweisen sich hier letztendlich die Autoren (und Investoren), selbst wenn uns ihr Mix-Getränk schnell zu Kopfe steigt. Welche Geschichte bekommt durch eine ordentliche Prügelei und hier und da nackte Haut nicht mehr Schärfe?! Wenn das Resultat allerdings so eintönig wie die meisten Mainstream-Filme heute ausfällt und die Geschichte ohne die Verfolgungsjagden und die heiße Aphrodite komplett in sich zusammen fällt, wirkt auch der hundertsiebzigste Ballerfilm mit Scarlett Johanssons Brüsten irgendwann fade. Oder leiden wir in unserer informationsüberschüssigen Welt einfach an Konzentrationsschwäche und bleiben nur mit hartem Stoff am Ball?
Wie wäre es jedoch, wenn zertrümmerte Nasen und amouröse Abenteuer wieder als feine Zutaten herhielten?! Momentan schmeckt diese hochgelobte Lektüre-Suppe nämlich etwas versalzen.