Schon mal auf dem Highway gesonnt?
Tel Aviv ist eine verrückte Stadt - zu verrückt finden einige. Noch kurioser wird es allerdings, wenn der ganze Wahnsinn für einen Tag zum Stillstand kommt.
Den September kann man in Israel mit einem Wort zusammenfassen: Feiertage. Angefangen mit dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana, an dem man sich an möglichst viel Honig labt, damit die nächsten 365 Tage so süß wie möglich werden. Gefolgt von dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, wenn der Himmel offen steht für Versöhnung (wie man sagt), oder dem Laubhüttenfest Sukkot, wo die ganze Familie zusammen in einer selbstgebauten Bude aus Holz und Palmenzweigen haust und diniert. Dies hat zur Folge, dass man im September kaum drei Tage am Stück arbeitet, ohne dass nicht wieder ein freier Tag vor der Tür steht und zum Bete bzw. Spaß haben einlädt. An genau dieser Stelle lässt sich nämlich erkennen, wer es mit der Thora bzw. ersten Testament mehr oder weniger genau nimmt.
Wer sich lieber Gott zuwendet, wird wahrscheinlich vierundzwanzig Stunden lang in der Synagoge aufzufinden sein - der Rest hat sich seine eigene Tradition erdacht. Fahrradfahren auf der Autobahn zum Beispiel.
Für jeden, dem das hier schon leicht sonderbar erscheint, es handelt sich speziell um Jom Kippur. Ein Meilenstein in der Geschichte, könnte man sagen (auch wenn der Himmel auch in diesem Herbst des Jahres 1973 zur Versöhnung bereit stand…!). Denn nur sechs Jahre nach dem Sechstagekrieg, fühlten sich die zuvor besiegten Araber immer noch in ihrer Ehre beleidigt und sinnten auf Rache. Zwar schafften sie es auch dieses Mal nicht, klein Israel aus der Landkarte zu löschen, doch auf beiden Seiten hagelte es nur so Verluste. Es sollte der erste Krieg werden, den Israel beinahe verloren hätte und seinen Landsleuten vor allem eins wieder vor Augen führte - auch ihre Armee, auch ihre gefeierten Kommandeure waren keine Superhelden. Stattdessen wurde mit dem Gedanken gespielt, gegen die Syrer und Ägypter nichts weniger als die Atomwaffen einzusetzen - so verzweifelt war das Heilige Land noch nie zuvor gewesen. 2.691 israelische Soldaten nahm dieser Krieg mit ins Grab. Heute macht der Schrecken dem Vergnügen Platz - außer man muss beichten, versteht sich.
Nein, heute verfällt das ganze Land für einen Tag in einen friedlichen Tiefschlaf. Nichts regt sich, kein Auto fährt, kein Geschäft hat geöffnet, kein gar nichts. Nur auf den ausgestorbenen Straßen flitzen hier und da Kinder auf ihren Fahrrädern umher und verzieren den Asphalt mit bunter Kreide. Von Erwachsenen kaum eine Spur. Noch nicht mal am Strand finden die sonstigen Massenwanderungen statt.
Zugebener Weise war der Anblick dieser ausgestorbenen Metropole auch unheimlich. Es schien als hätten Zombies einmal ordentlich zugeschlagen und hinterher brav aufgeräumt. Dieses Gefühl, der letzte Lebende zu sein, werde ich nicht vergessen, wie ich dort wie eine Ameise unter den Wolkenkratzern herum fleuchte und nach Menschen Ausschau hielt. Auf dem Drahtesel auf die Autobahn einzubiegen, wurde wiederum das lustigste Stadterlebnis meines Lebens. Und da die Sonne gerade am höchsten stand, konnte ich es nicht lassen, mich genüsslich auf dem vierspurigem Highway niederzulassen und für einen (äußert eigenartigen) Moment die Augen zu schließen. Wo, wenn nicht in Tel Aviv hätte ich so etwas sonst erlebt?!