Was macht deine Serviette denn da?!
Mit den Tischmanieren nimmt man es in Israel lässig. Soll man doch so essen, wie man lustig ist! Europäern fällt da schon mal die Kinnlade runter.
Neulich bekam ich sehr erfreulichen Besuch aus Deutschland. Da sie auf Geschäftsreise in Jerusalem unterwegs waren, luden sie mich zusammen mit ihren israelischen Freunden zum Essen in die Berge ein. Auch wenn man erst zehn Minuten zuvor miteinander bekannt gemacht worden war, ging es in unserer Runde sofort vergnüglich und lebendig zu. So sind sie, die Israelis.
Offen, redselig und laut. Ihre warmherzige Art macht es einem Ausländer leicht, sich in ihrer (recht schroffen) Umgebung pudelwohl zu fühlen, denn sie zieren sich nicht, mit dir in direkten Kontakt zu treten, hegen eine angenehme Neugier und haben das Herz auf der Zunge. Ihre allgemeine Fröhlichkeit (wenn sie sich nicht gerade beim Autofahren anschreien) erinnert der Spaniens, ihr Temperament scheint in Südamerika geboren und ihr Geschäftssinn ist zweifellos ihren europäischen Wurzeln zuzuschreiben. Und obwohl die Geschichte lang rote Zahlen für Deutsche und Israelis schrieb, ist man inzwischen wieder ein Herz und eine Seele. Nur in zwei Dingen haben wir eindeutig unterschiedliche Geschmäcker. Erstens in puncto Holocaust-Witze, über die sich Israelis kringelig lachen (man bezeichnet es schon als eine Art Volkshumor, Scherze mit Gas, oder Zügen zu schmücken), während dem Deutschen das Lachen eher im Halse stecken bleibt. Zweitens die Tischmanieren!
Bei unserem Kebab-Gelage hatte ich einen reizenden Gentleman zum Tischherrn, der zur Abwechslung mal nicht so aß, wie ich es gleich in den schlimmsten Farben ausmalen werde. Wir unterhielten uns gerade angeregt über seine Reiseerlebnisse in Japan, als er plötzlich irritiert auf meinen Schoß blickte und diese eine Frage stellte: "Was (zum Kuckuck dachte er zwar, sagte er aber nicht) macht deine Serviette denn da?!" Auch ich sah an mir herunter, wo (zu meiner Erleichterung) ungeknüdellt und feinsäuberlich meine blütenweiße Papier-Serviette dar lag; bestens vorbereitet, kleine Fauxpas abzufangen. "So wie Mamá es mir beigebracht hat!", sagte ich scherzhaft und konnte mich nur wundern. Zuhause ermahnte man mich jedes Mal, das Ding auch bloß der Etikette gemäß im Schoß zu platzieren. Hier erntete ich Lacher. Mein Tischherr erwiderte schmunzelnd: "Ihr Europäer!"
In diesem Augenblick wurde mir einiges klar. Ob man nun schmatzt, den Ellenbogen bequem aufstützt, nebenbei auf seinem Smartphone tippt, oder auch mal das Messer ableckt - in Israel gibt es für alles, was man in Deutschland blooß nicht tut, einen Freifahrtschein. Mit ihrer artenreichen Vielfalt die Gabel zu halten, könnten sie Anspruch auf Patente erheben. Auch gebraucht man nicht all zu selten seine Finger zum Essen (vermutlich von ihren Falafeln gefördert), spricht mit vollem Mund, oder bohrt in aller Öffentlichkeit in der Nase. Großen Entsetzens habe ich den ein oder anderen Unbekannten bereits dabei auf frischer Tat ertappt, doch blickten jene nur schulterzuckend zurück. So what.
Andere Länder, andere Sitten - davon habe auch ich schon etwas gehört. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass man sich in anderen Kulturen mit anderen Manieren zu Tisch begibt und man jemanden auf Grund dieser ästhetischen Differenzen nicht verurteilen darf. Nie vergessen werde ich den kolossalen Lachkrampf, den meine Patentante und ich einst in einem englischen Frühstücks-Café erlitten, weil hinter uns eine Koreanerin einen rentierhaften Rülpser nach dem anderen ausstieß. Mir schmeckt es ausgezeichnet! gibt man auf diese Weise in Korea dem Koch zu verstehen, während man in England wahrscheinlich wohl eher höflich hinausgebeten wird.
Schockierend ist es dennoch - im ersten Moment. Handelt dein Gegenüber in keister Weise jenem Verhaltenskodex entsprechend, der im eigenen Kulturkreis für Respekt und Ästhetik sorgt, verfällt man schon mal in Verwunderung. Im schlimmsten Falle kränkt es einen sogar, da jene Etikette einen Akt der Höflichkeit darstellt. "Weshalb sollen wir, die ihre Vorfahren ausgerottet haben, ihnen jetzt vorschreiben, wie sie sich zu benehmen haben?!!", kommentierte man das einst in Deutschland. Da ist etwas dran! Weshalb ist es bei einer Charakterfrage eigentlich Ausschlag gebend, ob man die Hand nun neben den Teller legt, oder nicht?! Sind wir Deutschen mit das tut man und das tut man nicht vielleicht am Ende ein wenig übereifrig, eventuell sogar eine Spur spießig?
Neutralen Auges betrachtet, handelt es sich nämlich um nichts anderes als eine Art snobistischen Ausschlussverfahrens, um die Streu vom Weizen zu trennen und um jeden Preis unter sich zu bleiben. Auf die Spitze getrieben wurde dies seit jeher vom Adel. Neben ihrer eigenen Note von Dresscode und <Man schneidet die Kartoffel nicht mit dem Messer>, verwendet er außerdem eine Art Geheimsprache, mit der man sich entweder zum popligen Volk, oder zur feinen Aristokratie bekennt. Ob man nun das Klo, oder die Toilette benutzt, ist daher von großer Bedeutung... in gewissen Kreisen.
Von diesem überspitzten Blödsinn einmal abgesehen, schneidet schlechtes Benehmen bedauerlicher Weise am tiefsten ins eigene Fleisch. Selbst wenn es schlichtweg eine Frage von Erziehung und keineswegs von Intellekt ist, bitten viele Arbeitgeber ihre Job-Interessenten zum feinen (Test-)Diner. Auf diese Weise lässt sich die Entscheidung nämlich leichter fällen, wer von den beiden leistungsebenbürtigen Bewerbern die Stelle denn nun bekommt. Und das wird definitiv nicht derjenige sein, der wie ein Affe über seinem Teller hängt und dem Vorgesetzten versehentlich auf den Ärmel spuckt.
Und aus keinem anderen Grund nehmen Israelische Politiker seit 2011 Benimm-Kurse, wo ihnen <die Grundregeln der Etikette und die Wichtigkeit ihrer Vorbildfunktion nahe gebracht werden> (Zitate israel heute, 30.11.2011, Kerstin Braun). Damals wurden sie in die Zange von Israels Etikett-Guru Tami Lancut Leibovitz genommen, die ihnen dann mal erklärte, dass man mit geschlossenem Mund kaut und bitte nicht in der Öffentlichkeit flucht. Anlass waren ein paar peinliche Auftritte bei offiziellen Anlässen im In- und Ausland gewesen, die besonders Leuten wie ihr die Schamröte ins Gesicht trieben.
"Es ist traumatisch,
mit anzusehen, wie sie essen. Sie benutzen keine Servietten, stellen die Stühle nicht ordentlich an den Tisch und haben keine Ahnung, wie man richtig mit Messer und Gabel isst.
Das gibt es in keinem anderen Land"
(Israel heute, Tami L. Leibovitz)
Wenn sie im Knesset entweder Candy Crash spielen, oder sich für ein Nickerchen aufs Ohr legen, sieht man in Israel darüber hinweg. Von ihren Landsleuten wird es ihnen meistens sogar als Lässigkeit und Coolness angerechnet, weil sie sich nichts aus der Meinung der anderen machen. Bis sich die Herrn Staatspräsidenten dann mal über ihre Grenzen hinaus und auf internationalem Parkett bewegen - und es weltweites Entsetzen regnet. Abgesehen von ihrem Dress-Code ist offensichtlich auch die Tischkultur unter die Räder der ständigen Bedrohung und radikalen Politik des Umfeldes gekommen. Irgendwo muss man es ihnen nachsehen. Die Hälfte ihrer Existenzzeit waren die Israelis mit der Verteidigung ihres Zwergen-Staates beschäftigt, für etepetete blieb da wenig Zeit. Im Gegenteil, für manche gilt es als Schwäche, sich gut zu benehmen.
Würde es einen nicht unglaublich kränken, von einem Freund mitgeteilt zu bekommen: "Du isst wie ein Schwein. Kann ich dir mal zeigen, wie es richtig geht?!"
Auf der anderen Seite sollte man in einem Moment wie diesem besser über den eigenen Schatten springen, da in dieser (gut gemeinten) Kränkung auch eine große Chance liegt. Ein Arbeitgeber verurteilt einen im Stillen, einen darauf hinweisen, würde er jedoch nie.
Im Grunde ist es wirklich egal, wie die Israelis ihr Gejagtes zerlegen. Doch gerade jetzt, wo Tausende nach Deutschland strömen und auf Jobsuche sind, würden sie sicherlich leichter Fuß fassen, säßen sie ein wenig aufrechter am Tisch und schmatzten vielleicht nicht ganz so laut. Ein paar Manieren können schließlich nie schaden. Es wäre sogar sehr schade, sie wegen dieser banalen Volkskrankheit fälschlicher Weise als unkultiviert zu bezeichnen. Das sind sie zwar partout nicht, doch ihr Tischverhalten vermittelt den Eindruck.
Seitdem ich in Israel lebe, lautet mein Fazit:
Lebensnotwendig sind gute Manieren nicht. Doch sie verschaffen einem Vorteile in jeder Form von Gesellschaft und einem Erscheinungsbild geben sie den letzten Schliff. Denn am Ende sieht es einfach besser aus.